18. Oktober 2009

Ein blendender Spion

Seit neuestem leide ich an der Angst, aufgrund exzessiven Internetkonsums meine Lesekompetenz zu verlieren und nicht mehr in der Lage zu sein, einen Text, der mehr als ein paar Zeichen umfasst, zu Ende lesen zu können. Diese Angst ist so neu und modern, dass sie noch nicht einmal einen Namen hat; auf der Wikipedia-Liste der Ängste und Phobien zumindest ist sie nicht zu finden. Möglicherweise bin ich die erste Person, die diese Angst empfindet? Wer möchte, kann sich gern eine adäquate Bezeichnung für sie ausdenken, bitte, da habe ich nichts dagegen. Anyway, diese besondere Form der Verlustangst verbietet es mir, Bücher nicht zu Ende zu lesen, sie geht also folglich mit dem Zwang einher, Bücher auslesen zu müssen. Sobald mich ein Buch langweilt, denke ich nicht, aha, langweiliges Buch, weg damit, sondern ich denke, aha, wieder mal zu viel im Internet unterwegs gewesen, wieder ein Stückchen Lesekompetenz eingebüßt und offensichtlich nicht mehr in der Lage, ein an und für sich spannendes und nur dir (also mir, Anm. d. Verf.in) langweilig erscheinendes Buch zu Ende zu lesen. Also muss sich durch den Schinken gekämpft werden. Ihr glaubt mir nicht? Hier der Beweis: Am 7. September habe ich mir für die Ferien einen Spionageroman aus der Bücherei ausgeliehen. Spionageromane spielen immer im Kalten Krieg, und ich mag alles, was mit Spionen zu tun hat, und ich mag alles, was mit dem Kalten Krieg zu tun hat. Der Kalte Krieg birgt aus heutiger Sicht jede Menge heile Welt-Potential, was natürlich sehr erholsam und für Ferienlektüre durchaus erwünscht ist (Stichwort Eskapismus) - jedoch: Heute ist bereits der 19. Oktober. Das Buch hat 653 Seiten, inzwischen bin ich immerhin bei Seite 306 angelangt. Merkt ihr was? Ich weiß schon, theoretisch - theoretisch! - könnte es sich auch um ein langweiliges Buch handeln, aber was, wenn nicht? Im Klappentext steht, der Roman sei "ein ungeheuer spannender Agententhriller" und "zweifelsohne ein Meisterwerk". Was, wenn das stimmt? Was, wenn es wieder an mir liegt? Ich muss weiterlesen. Scheiß neurotisches Denken.

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2 Kommentare:

Anonymous Anonym

Liebe Rosine,
Du scheinst noch nicht genug im Internet unterwegs gewesen zu sein! Denn sonst würdest Du folgendes aus Erfahrung wissen: Je langweiliger ein Thema, desto reißerischer die Aufmachung! Daraus schließen wir: "ein ungeheuer spannender Agententhriller" und "zweifelsohne ein Meisterwerk" ist einfach tödlich langweilig und darüber hinaus schlecht geschrieben. Aber irgendwie muss man die Leser ja ködern...
Hiermit erlaube ich Dir also das Buch zu beenden. Was aber erstaunlich ist: Ich kann ein begonnenes Buch auch erst zurück ins Regal stellen, wenn ich jede Seite gelesen habe. Genauso mit Filmen: Egal wie langweilig, kitschig, oder zum Augenverdrehen: Ich muss das Ende gesehen haben. Handelt es sich vielleicht gar nicht um eine Angst? Sondern um etwas anderes? Einen Zwang? chronische Neugier? Erst mal bei Wikipedia nachschauen!
Viele Grüße aus der Provinz!

21. Oktober 2009 um 14:01  
Blogger ROSINE

Lieber Anonymus/liebe Anonyma, vielen Dank für die Absolution, aber ich habe das Buch zu Ende gelesen, gestern habe ich die letzte Seite geschafft, danach bin ich in einen tiefen, bleiernen Schlaf gefallen und heute morgen seltsam befreit aufgewacht. Ob ich jetzt geheilt bin?

7. November 2009 um 17:23  

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